Wie man aus einer meterlangen Mängelliste einen Zukunftsplan schmiedet und warum Barrierefreiheit abteilungsübergreifend gedacht werden muss – auch in Kulturinstitutionen. Interview mit Dennis Schmidt, Referent für digitales Marketing und Kommunikation bei der Staatsoper Unter den Linden.

Einleitung: Was tut die Überwachungsstelle für digitale Barrierefreiheit?
Bereits vor seinem Inkrafttreten im Juni 2025 brachte das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) dem Thema digitale Barrierefreiheit gehörigen Aufwind – auch in der Kulturszene. Denn bei genauerem Hinsehen gab es für viele Berliner Kulturakteur:innen gleich zwei unerwartete Plot-Twists:
– Das BFSG gilt vor allem für die Privatwirtschaft und hat wenig Auswirkungen auf die Kulturszene.
– Für Berliner Einrichtungen, die zu mindestens 50 % aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, gilt seit 2019 das Barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnik Gesetz Berlin (BIKTG Bln)[Download-Link], das auf der EU-Richtlinie 2016/2102 fußt.
Um die Durchsetzung des Gesetzes sicherzustellen, hat das Land Berlin 2018 die Kompetenzstelle für digitale Barrierefreiheit eingerichtet. Sie dient öffentlichen Stellen im Berliner Raum als Anlaufstelle zum Thema.
Die Überwachungsstelle ist Teil der Kompetenzstelle und hat die Aufgabe, regelmäßig stichprobenartige Tests bei Websites durchzuführen, die zu Einrichtungen aus ihrem Hoheitsgebiet gehören.
Die Tests erfolgen ohne Ankündigung – und können auch Kultureinrichtungen erwischen. Das musste im Januar 2024 die Staatsoper Unter den Linden erfahren.
Wie sieht ein Prüfbericht aus und was stand bei der Staatsoper drin?
Dennis Schmidt ist Referent für digitales Marketing und Kommunikation bei der Staatsoper Unter den Linden und in dieser Funktion auch für die redaktionelle Betreuung der Website zuständig. Wir haben ihn zu seinem Umgang mit dem Prüfbericht und der Beseitigung der darin festgestellten Mängel befragt.

Hallo Dennis! Damit alle wissen, worüber wir sprechen: Wie würdest du das Angebot auf der Website der Staatsoper Unter den Linden beschreiben? Was sind eure zentralen Inhalte und wen möchtet ihr damit ansprechen?
Dennis Schmidt: In erster Linie wollen wir natürlich Menschen erreichen, die uns besuchen möchten. Der Spielplan ist deshalb das Herzstück unserer Website. Wer sich auf den Besuch vorbereiten oder im Nachgang mehr zu einer Produktion erfahren möchte, findet außerdem inhaltliche Infos, Pressestimmen, Fotos und Videos.
Im Januar 2024 hat die Überwachungsstelle für digitale Barrierefreiheit des Landes Berlin eure Website unter die Lupe genommen. Wie habt ihr davon erfahren?
Dennis Schmidt: Es kam eine E-Mail von der Überwachungsstelle, die bereits den vollständigen Prüfbericht enthielt – verbunden mit dem Angebot, in den persönlichen Austausch zu den festgestellten Mängeln zu gehen.
Wie sieht so ein Prüfbericht aus?
Dennis Schmidt: Der Prüfbericht fasst am Anfang zusammen, welche Teile der Website auf welche Weise geprüft wurden und welche Mängel dabei festgestellt wurden – und man bekommt eine prozentuelle Angabe, wie gut man in puncto Barrierefreiheit abgeschnitten hat. Diese Zusammenfassung war bei uns drei Seiten lang. Darauf folgt dann die detaillierte Version, bei der einzelne Mängel teilweise ganze Seiten einnehmen. Das waren bei uns 45 Seiten.
Wow, das klingt erstmal erschlagend.
Dennis Schmidt: Ja, man muss aber sagen, dass die Überwachungsstelle sich wirklich Mühe gibt, die Probleme und Mängel verständlich zu benennen und Lösungswege aufzuzeigen. Man erfährt, mit welchen Tools ein Mangel festgestellt wurde, welche Nutzungsprobleme sich aus ihm ergeben können, wie es besser gehen könnte und – besonders hilfreich – wer sich um die Verbesserung kümmern sollte. Also, ob der Mangel redaktionell behoben werden kann oder ein Fall für Designer:innen oder Programmierer:innen ist.
Lass uns einmal konkreter werden: Was waren die hauptsächlichen Mängel, die bei euch festgestellt wurden?
Dennis Schmidt: Ein wiederkehrendes Problem waren fehlerhafte Seitenstrukturen. Also beispielsweise Fehler in der Überschriftenhierarchie oder Überschriften, die gar nicht als solche gekennzeichnet waren. Ein weiteres häufiges Problem bestand in nicht korrekt gelabelten Schaltflächen.
Neben diesen eher technischen Mängeln waren fehlende Alternativtexte für Nicht-Text-Inhalte ein weiteres großes Feld. Also fehlende Bildbeschreibungen in Galerien, aber auch die fehlende Kennzeichnung von Videos als Videos, die nötig ist, damit Screenreader erkennen können, um welche Art von Inhalt es sich handelt.
Überschriften-Hierarchie?
Hier erklären wir wichtige Begriffe zum Thema digitale Barrierefreiheit:
Barrierefreie Kultur-Websites: Tipps und Tools für den Einstieg
Gab es auch Überraschungen?
Dennis Schmidt: Ich war schon teilweise erstaunt, wie genau da hingeschaut wurde und hätte einige Aspekte vorher auch nicht mit digitaler Barrierefreiheit in Zusammenhang gebracht. Bei uns gab es beispielsweise einen Slider, den man nicht per Klick anhalten konnte. Das kann für Personen zum Problem werden, die schnell reizüberflutet sind und eine Seite deswegen auch schon mal nach wenigen Sekunden wieder verlassen müssen.
Wie haben sich die festgestellten Mängel bei den zentralen Inhalten, also beispielswiese dem Spielplan gezeigt?
Dennis Schmidt: Wir haben auf der Startseite einen Jahreskalender, der sich für alle eignet, die schnell einen Überblick bekommen möchten, statt sich durch den gesamten Spielplan zu scrollen. Sehende Menschen konnten dort erkennen, dass man per Button zum Folgemonat gelangen kann – für Screenreader fehlte dem Button leider die entsprechende Beschriftung.
Wer sich die Seite vorlesen ließ, konnte also zum Zeitpunkt der Überprüfung nicht erkennen, dass man sich im Kalender von Monat zu Monat fortbewegen kann. Eine vermeintliche Kleinigkeit, aber bei genauerem Hinsehen natürlich ein klarer Mangel.
Vom Spielplan ist es nur ein Schritt zum Ticketshop. Wie gut kam der bei der Überwachungsstelle weg?
Dennis Schmidt: Es gab einen ganzen Abschnitt, der nur die Barrierefreiheitsprobleme des Ticketshops beleuchtete. Wir arbeiten – wie viele andere Häuser auch – mit Eventim zusammen und haben nur begrenzt Einfluss darauf, wie barrierefrei der Ticketkauf hier gestaltet wird. Das wurde im Prüfbericht bemängelt, was ich auch durchaus richtig finde.
Seid ihr mit Eventim in Kontakt, um an den festgestellten Problemen zu arbeiten?
Dennis Schmidt: Es ist schwierig, dazu wirklich in Kontakt zu kommen. Wir halten aber sämtliche festgestellten Probleme in unserem Projektmanagement-Board fest, um sie parat zu haben, wenn sich mit Eventim doch noch ein engerer Kontakt ergibt.
Erfährt man im Prüfbericht, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind?
Dennis Schmidt: Ja, es gibt zu jedem Prüfpunkt einen Abschnitt „verwendete Software und Umgebung“, in dem Browser-Add-ons, Bookmarklets und weitere Programme gelistet sind, die zur Überprüfung herangezogen wurden. Die habe ich dann auch nachrecherchiert – und einige Tools gefunden, die ich nun selbst für Überprüfungen nutze. Die Tools sind auch in unserer Barrierefreiheitserklärung gelistet.
Maßnahmen planen und priorisieren: Was ist dringend, was kann zur Not warten?
Was waren deine ersten Schritte, nachdem du den Prüfbericht erhalten hast?
Dennis Schmidt: Zuerst habe ich mich mit unserem Referenten für Digitales, Holger Kral, und danach mit unserer Webagentur zusammengesetzt, um ein gemeinsames Verständnis und einen groben Plan für die Lösungsfindung zu entwickeln. Ein wichtiger Punkt dabei war, dass wir zum Zeitpunkt der Überprüfung gerade dabei waren, einen „Rebrush“ zu planen, also eine mittelgroße, vor allem Design-bezogene Überarbeitung der Website. Das stellte sich insgesamt als Vorteil heraus, warf aber auch zusätzliche Fragen auf.
Inwiefern?
Dennis Schmidt: Es gab Website-Bereiche, für die wir auf lange Sicht ohnehin Änderungen im Blick hatten – und deren aktueller Zustand dann im Prüfbericht bemängelt wurde. Da haben wir uns gefragt: Sind die Probleme so dringend, dass wir uns besser heute als morgen darum kümmern oder hätte es an manchen Stellen auch noch Zeit, bis wir sie im Zuge des Rebrushs ohnehin in Angriff nehmen?
Wie seid ihr damit umgegangen?
Dennis Schmidt: An der Stelle haben wir uns dann entschieden auf Stephan Heinke zuzugehen, dem Leiter (und einzigen Mitarbeiter) der Überwachungsstelle. Bei ihm haben wir unkompliziert und kurzfristig einen persönlichen Beratungstermin bekommen. Es war eine gute Idee, auch einen Kollegen unserer Webagentur dabeizuhaben, so saßen alle an der Website-Überarbeitung Beteiligten einmal an einem Tisch.
Wie lief das Beratungsgespräch mit Stephan Heinke?
Dennis Schmidt: Das war sehr hilfreich, auch weil er von sich aus nochmal eingeordnet hat, an welchen Stellen des Prüfberichts auch seine subjektive Sicht zum Tragen kommt und ein anderer Gutachter vielleicht andere Formulierungen gewählt hätte.
Auch auf unsere Fragen zur Dringlichkeit bestimmter Anpassungen hatte er Antworten. So haben wir zum Beispiel erfahren, dass wir die unzureichenden Farbkontraste im Header und auf weiteren Elementen unserer Website eher schnell angehen sollten – und was dafür auf Programmierebene nötig ist. Nach dem Gespräch hatten wir alle Informationen, um in die Feinplanung zu gehen.
Wie seid ihr dabei vorgegangen?
Dennis Schmidt: Zunächst habe ich intern geklärt, wieviel Geld und Personal wir auf absehbare Zeit für die Anpassungen aufwenden können. Unsere Agentur hat währenddessen auf der Basis des Prüfberichts eine feingliedrige Aufgabenliste in unserem Projektmanagement-Tool erstellt.
Was ist dabei auf eurer Prioritätenliste ganz oben gelandet?
Dennis Schmidt: Als dringend markiert haben wir zum Beispiel den fehlerhaften Monatsschalter beim Startseiten-Kalender, von dem ich erzählt habe. Und sämtliche Strukturfehler auf den Hauptseiten sowie die Beschriftung von Bedienelementen. Denn das sind wirklich Basics, ohne die man sich als Nutzer:in von assistiven Technologien nicht durch unsere Seite bewegen kann. Für diese sofort zu lösenden Probleme haben wir dann einen ehrgeizigen Fahrplan erstellt. In acht bis zehn Wochen wollten wir damit durch sein – und das haben wir tatsächlich geschafft!
Welche Maßnahmen habt ihr eher nach hinten geschoben?
Dennis Schmidt: Grundsätzliche Designgeschichten und alles, das eine längere Vorbereitungszeit braucht. Dazu gehören zum Beispiel die Erstellung von Alternativtexten für unsere bereits bestehenden Bildinhalte, ein Angebot in Gebärdensprache oder Video-Untertitelung.
Hat die Überwachungsstelle eure Website nochmal überprüft – bezogen auf diese dringenden Mängel?
Dennis Schmidt: Ja, es gab eine Folgeüberprüfung. Leider fiel die etwas ungünstig auf einen Zeitpunkt, an dem wir viele Mängel bereits technisch eingekreist hatten, die Live-Schaltung aber noch bevorstand. So tauchten im neuen Prüfbericht viele Mängel erneut auf, die wenig später behoben waren. Das war ein bisschen schade. Im Rückblick denke ich, wir hätten Herrn Heinke über das Launch-Datum informieren sollen, um das zu verhindern.
Im Team ein Barrierefreiheits-Mindset fördern
Lass uns nochmal über Alternativtexte sprechen. Warum sind sie so ein langwieriges Unterfangen?
Dennis Schmidt: Seit wir das Thema auf dem Schirm haben, stelle ich neue Fotos grundsätzlich mit Alternativtext ein. Die Herausforderung bei uns liegt in der schieren Masse an Nicht-Text-Inhalten, die bereits online sind. Wir sind immer noch nicht sicher, wie weit wir da im Rahmen unserer Kapazitäten gehen können und wo wir die Grenze ziehen. Wollen wir wirklich sämtliche Produktionsbilder der letzten Jahre mit Alternativtexten versehen? Beim Thema Alternativtexte oder barrierefreier Content zeigt sich aber auch, dass digitale Barrierefreiheit ein abteilungsübergreifendes Thema ist oder zumindest sein sollte.
Was meinst du damit?
Dennis Schmidt: Ich kann nachträglich Bilder mit Alternativtexten oder Videos mit Untertiteln versehen. Viel effizienter ist es aber, wenn das bei den Abteilungen liegt, die die Inhalte liefern. Ich möchte in unserem Haus einen Prozess anstoßen, der alle Kolleg:innen mitnimmt, die regelmäßig Inhalte produzieren. Also zum Beispiel die Presseabteilung oder die Dramaturgie. Die dramaturgischen Texte auf unserer Website haben ein hohes Niveau und sind traditionell sehr musikwissenschaftlich. Es wäre schön, zumindest einige von ihnen auch in leichter Sprache anbieten zu können.
Wie stellst du dir diesen Prozess vor?
Dennis Schmidt: Erstmal geht es darum, abteilungsübergreifend für das Thema zu sensibilisieren – also Räume zu schaffen, in denen darüber gesprochen werden kann. Ohne Angst und Perfektionismus und mit dem Bewusstsein, dass hier ein langfristiger institutioneller Lernprozess eingeleitet wird. Und das am besten nicht nur einmal, sondern regelmäßig. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen, dass durch die Beschäftigung mit dem Thema nicht nur die eigenen Ansprüche steigen, sondern sich auch automatisch der Blick schärft.
Inwiefern?
Dennis Schmidt: Bei bestimmten Arbeitsschritten meldet sich inzwischen automatisch eine Stimme in mir: Hast du überprüft, ob die PDF barrierefrei ist, die du gerade hochlädst? Ist das ein sprechender Link, den du gerade setzt?
So viel zur konstanten Integration des Themas in den Alltag. Gibt es abgesehen davon strategische Tipps, die du anderen Kulturinstitutionen für die längerfristige Planung geben kannst?
Dennis Schmidt: Als der Prüfbericht ankam, waren wir gerade dabei, uns in der Tiefe mit Design und Struktur unserer Website auseinanderzusetzen – für den Rebrush. So konnten wir die Mängel, die mit größeren Problemen zu tun hatten, in unsere Planungen zum Seitenumbau einbeziehen. Wäre der Testbericht ein paar Monate später gekommen, hätten wir vermutlich sehr vieles wieder umbauen müssen. Kleinere oder größere Relaunch-Vorhaben sind also optimale Anlässe, um digitale Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken.
Interview: Thorsten Baulig