Reale Barrieren im virtuellen Raum (in German)

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Wie finden sich Personen mit Seheinschränkung in VR-Anwendungen zurecht? Welchen Barrieren begegnen sie vorab und wie barrierefrei sind Plattformen wie Mozilla Hubs & Co. eigentlich?

Blick in einen virtuellen Ausstellungsraum von Prater Digital mit Avatar - die Navigation mit Tastatur stellt Barrieren für Screenreader-Nutzer:innen dar
Screenshot: Avatar in einem virtuellen Ausstellungsraum von Prater Digital

Alternative Zugänge zu schaffen ist ein besonders aktuelles und relevantes Thema für viele Kulturbetriebe in Berlin, wenn es um digitale Kulturangebote wie Ausstellungen, Konzerte oder Performances geht. Neue Technologien und virtuelle Online-Welten ermöglichen das Erleben vielfältiger Angebote und sozialer Interaktionen online, doch bringen sie oft auch neue Barrieren mit sich oder schließen Teile der Gesellschaft sogar ganz aus.

In der zweitägigen Onlineveranstaltung von kulturBdigital zu „Social VR“ zeigten das Kollektiv unreal.theater und die Kulturinstitution Prater Digital aus Berlin, wie man sich in VR zurecht findet und VR-Veranstaltungen kreativ (mit-)gestalten und besuchen kann. Begleitet wurde der Workshop auch von zwei Gästen mit Sehbeeinträchtigungen. Einige Erfahrungen und Hürden bei der Nutzung von VR der Teilnehmenden Lavinia Knop-Walling (theater hören berlin) und Michael Baumeister (Förderband e.V. und ohrsicht-radio.de) möchten wir im Nachfolgenden mit euch teilen.

Anforderungen an den barrierefreien Anmeldeprozess

Die Anmeldung an Onlineveranstaltungen als eigenständiger und bewusster Prozess der Teilnehmenden ist häufig noch nicht barrierefrei und mit einem relativ hohen Aufwand verbunden. Doch bietet sich gerade hier die Möglichkeit für die Teilnehmenden, ihren individuellen Bedarf mitzuteilen. Wichtig für eine barrierefreie Anmeldung sind also unter anderem das Abfragen eines konkreten Unterstützungsbedarfs z.B. im Formular, eine zur Verfügung stehende Ansprechperson und deren klar ersichtliche Kontaktdaten sowie unterschiedliche Möglichkeiten der Anmeldung.

Im  Fall unserer Veranstaltung hat sich die Kommunikation mit Lavinia und Michael über individuelle E-Mails mit entsprechenden Veranstaltungslinks als problemlos erwiesen, aber auch ein Online-Formular mit wenigen, übersichtlichen Eingabefeldern wäre eine funktionierende Alternative gewesen. Als besonders hilfreich wurden von Lavinia eine gesonderte E-Mail mit den Veranstaltungs-Links sowie den Kontaktdaten einer gezielten Ansprechperson während der Veranstaltung empfunden: „Ich bin sehr dankbar dafür, dass du mir noch eine Extra-Mail mit den Links geschickt hast, weil ich sie in den beigefügten Notizen sicher nicht gefunden hätte.“

Welche Probleme ergeben sich bei der Teilnahme an (online)-Veranstaltungen?

Hürden beim Ticket-Buchen und unbenutzbare Video-Player… Erfahrungen von Lavinia Knop-Walling (theater hören berlin) mit der Nutzung digitaler Kulturangebote.

Video: Technologiestiftung Berlin, CC BY 4.0

Wie sollten Tipps für die Event-Vorbereitung gestaltet sein?

Am besten kurz, unkompliziert und übersichtlich. Die in unserer Veranstaltung verwendeten Tools benötigten vorab verschiedene Vorbereitungen: Für VRChat müssen z.B. die Vertriebsplattform Steam sowie das VRChat-Programm selbst heruntergeladen und in ihnen jeweils Accounts erstellt werden. Für Mozilla Hubs ist kein Download notwendig, jedoch müssen Mikrofon- und Kameraeinstellungen getroffen werden. Hier treten mitunter bereits erste Hürden für die Teilnehmenden auf, wenn die Programme nicht mit ihren Screenreadern kompatibel sind.

Schriftliche Anleitung

Oftmals sind im Vorfeld versendete Anleitungen für Teilnehmende reich bebildert, was zur Vereinfachung für Sehende dienen soll. Diese Bilder lassen sich – sofern sie nicht mit ALT-Texten versehen sind – jedoch nicht von Screenreadern vorlesen und werden somit für Teilnehmer:innen mit Sehbeeinträchtigungen unbrauchbar und können zu Lücken im Anleitungsverlauf führen. „Da ich überhaupt keine Bilder erkennen kann, würde ich mir eine Beschreibung wünschen. Das Gleiche gilt für Videos“, meint zum Beispiel Lavinia.

Video Tutorials

Auch sollten die Anwendungen in Video-Tutorials im besten Fall ebenfalls durch jemanden vorgeführt werden, der einen Screenreader nutzt. Bei komplexeren Tools wie im VR-Bereich, bei dem oft spezielle Bedürfnisse der Teilnehmenden berücksichtigt werden müssen, ist eine langsame, systematische Vorführung des Programms notwendig.  

Geräte-Verleih

Social VR-Angebote sind so angelegt, dass Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort über VR-Geräte oder eigene Computer Zugriff auf die virtuelle Welt haben – besonders auch aus dem eigenen Zuhause. Im Fall unserer Veranstaltung hatten wir über den Verleih von Geräten nachgedacht. Aber mitunter kann bereits das selbstständige Abholen an einem fremden Ort zum ersten Hindernis werden, denn nicht immer kann eine postalische und damit barrierearme Zustellung der Geräte gewährleistet werden. Für Michaels Gerätetest haben wir uns daher mit dem Team von unreal.theater für eine Direkteinführung abgestimmt.

Hürden beim Onboarding

Die Vorträge und Einführung in die Programme der Veranstaltung fanden über das Videokonferenz-Tool Big Blue Button statt. Doch bereits hier stießen Michael und Lavinia auf die ersten Hindernisse, da sie die dort im Chat geteilten Nachrichten und Links nicht immer wahrnehmen konnten: „Big-Blue-Button ist sicherlich nutzbar, aber weitaus weniger barrierefrei als ZOOM. Der Short-Cut ALT+M zum Entstummen des Mikrofons hat nicht richtig funktioniert. Den Chat konnte ich bedienen, aber mein Screenreader hat mir nicht automatisch die Chat-Nachrichten angesagt“, erklärt zum Beispiel Lavinia.

So musste sie die neuen Nachrichten jedes Mal gezielt mit ihrem Screenreader ansteuern und lief dabei Gefahr, Inhalte der Veranstaltung zu verpassen. Auch mussten ihr die dort geteilten Links für den Wechsel zur Plattform Mozilla Hubs gesondert geschickt werden. Eine besondere Herausforderung bei der Nutzung von Videokonferenzprogrammen ist, so betont etwa Michael, dass die Bedienung per Tastatur oft kaum einheitlichen Standards für barrierefreie Programmierung folgt. Im Alltag bedeutet dies, dass in jedem Programm die Orientierung neu erlernt werden muss.

Warum sind einheitliche Standards wichtig?

Navigationsprobleme, Button-Wortschöpfungen und verspätete Cookie-Hinweise… Michael Baumeister (Förderband e.V. und ohrsicht-radio.de) berichtet über Alltagshürden bei der Nutzung von Websites und Apps.

Video: Technologiestiftung Berlin, CC BY 4.0

Nutzung von VR-Programmen

Generell wird deutlich, dass auch jedes VR-Programm mit seinem individuellen Aufbau eine große Herausforderung für die meisten Teilnehmer:innen darstellt und einen enormen Zeit- und Lernaufwand mit sich bringt. So sind Programme wie z.B. Mozilla Hubs und VRChat, die auf visuelle Erlebnisse und soziale Interaktionen abzielen und in der Handhabung ohnehin etwas anspruchsvoller sind, zusätzlich herausfordernd.

Uneindeutige Element-Titel

Auch ist eine einfache und eindeutige Benennung von Buttons wichtig für eine barriereafreie Nutzung der Anwendungen. Für Lavinia haben ungenaue Benennungen die Orientierung im neuen Programm deutlich erschwert: „Einige Buttons hatten so kryptische Titel wie ‚show object info button‘.“ Insbesondere der Einstieg in die Plattform stellte Lavinia vor große Orientierungsprobleme: „Ich weiß nicht, welchen Avatar ich wähle und ob ich in dem gewünschten Raum bin“.

Barrieren im Menü zur Benennung und Auswahl eines Avatars bei Mozilla Hubs. Welcher Avatar vorausgewählt ist, ist per Screenreader nicht wahrnehmbar.
Screenshot: Avatarmenü in Mozilla Hubs. Welcher Standard-Avatar angezeigt wird, ist per Screenreader nicht wahrnehmbar.
Avatar-Auswahl in Mozilla Hubs mit unterschiedlich gestalteten Avataren
“Sweater Bot” & “Ducky Bobble”: Viele Avatarbezeichnungen erscheinen über den Screenreader ausgelesen recht kryptisch.

Eingeschränkte Navigation

Die Teilnehmenden der Veranstaltung konnten sich u.a. in verschiedenen Räumen in Mozilla Hubs umsehen und erste Schritte sowie Funktionen erlernen. Das Prinzip der möglichst realen sozialen Interaktion in Mozilla Hubs beruht u.a. darauf, dass sich die Lautstärke der Audiospuren durch Entfernungen der Avatare zueinander und zu den Gegenständen regeln. Je näher man sich also an der Geräuschquelle befindet, desto lauter ist der Ton. Ebenso werden Stimmen und Geräusche mit zunehmender Distanz wieder leiser und sind irgendwann gar nicht mehr zu hören.

Generell sind die Kompatibilität der Programme mit etwaigen Screenreadern sowie die Funktionalität der gängigen Shortcuts (Tastenkombinationen) zu beachten. In Lavinias Fall konnte sie die Gruppe zwar zu Beginn hören, jedoch nicht mit ihr interagieren, da der Short-Cut ALT+M für das Entstummen nicht richtig funktioniert hat.

„Zwar konnte ich den Moderator bei der Tour durch Prater Digital hören und ein paar Namen sehen, sie konnten mich aber nicht hören. Letztendlich konnte ich mich wenigstens über den Chat verständigen, mich aber nicht bewegen, weil in Mozilla Hubs alle Tasten für die Navigation bereits durch meinen Screenreader belegt sind. Das heißt, ich kann meine Pfeiltasten und Buchstaben nicht verwenden, um meinen Avatar zu bewegen. Ich kann meinen Screenreader bei solchen Plattformen aber auch nicht ausschalten, da es fast kein akustisches Feedback durch das System gibt. Ich konnte nicht hören, ob sich mein Avatar bewegt oder wahrnehmen, ob sich die anderen Anwesenden bewegen.“

Avatare der Tour-Gruppe in Mozilla Hubs, verteilt über den virtuellen Raum. Barrieren stellen sich bei der Navigation ein.
Screenshot: Avatare, verteilt über einen Testraum in Mozilla Hubs

Umgekehrt kann auch eine Raummoderation Personen nicht hören, deren Avatare sich zu weit weg befinden. Sind die Avatar-Bezeichnungen besonders phantasievoll oder gleich eine ganze Horde identischer Roboter und Füchse im Raum, fällt das schnelle Auffinden schwer. Meldet sich ein Gast dann nicht direkt im Chat, besteht kaum eine Möglichkeit, zu helfen.

Multiplizierte Barrieren

Als Folge ihrer virtuellen Immobilität verlor Lavinia in der mehrräumigen Ausstellung den Anschluss zu den anderen Gästen und konnte nur durch eine telefonische Betreuung einer kulturBdigital-Kollegin durch die Ausstellung geführt werden und den Weg zur Gruppe finden. „Alles ging mir viel zu schnell. Die Gruppenleitungen redeten einfach drauflos und ich kam mir im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar vor. Ich konnte mich nicht bewegen und nicht sprechen. Zuerst konnte ich nicht einmal den Chat bedienen. Letztlich habe ich Annette angerufen. Sie hat mir dann immer gesagt, wann wir in den nächsten Raum gehen.“ Diese Begleitung sei laut Lavinia unerlässlich gewesen: „Ohne sie hätte ich heute frustriert aufgegeben.“

Für Michael, der mit einer VR-Brille probeweise in die Plattform VRChat eingetaucht ist, stellte sich die Situation ähnlich dar: „Ich sehe nur mit dem linken Auge ein bisschen. VR-Angebote sind aber auf binokulares Sehen zugeschnitten, um einen richtigen 3D-Effekt zu erhalten. Je nachdem, wie der virtuelle Raum gestaltet ist, kann ich also noch Boden oder Wände wahrnehmen und navigieren oder Objekte aufheben. Da es aber keine Sprachunterstützung in den Brillen gibt, kann ich im VR-Menü nichts einstellen, geschweige denn eingeblendete Anweisungen erkennen.“

Perspektivwechsel nötig

Lavinias Resümee der Veranstaltung scheint eindeutig: „Mozilla Hubs braucht eine steile Lernkurve. Heute ging es mir definitiv zu schnell.“ Für VR-Veranstaltungen ist es unerlässlich, zusätzliche Betreuung für den Bedarf einzelner Teilnehmer:innen einzuplanen, um diese nicht in den Hintergrund zu drängen oder durch technische Barrieren gänzlich auszuschließen. Zwar wurde Lavinia die ganze Zeit telefonisch von einer Person betreut, fühlte sich jedoch in den virtuellen Ausstellungen übersehen und konnte viele Aspekte der Veranstaltung nur sporadisch wahrnehmen. „Ich habe heute gar nichts von den Erklärungen der Moderator:innen mitbekommen und habe dementsprechend keine Ahnung, wie die Räume aussahen und wie man sich dadurch bewegen konnte. In einem Raum habe ich dann die Sound-Installation gehört. In einem anderen habe ich es sogar geschafft, ein Kunstwerk zu starten. Jedenfalls habe ich Aufnahmen und Hintergrundmusik gehört.“ Auch stellte sich der interaktive Raum- und Gruppenwechsel der Veranstaltung für sie als eine zusätzliche Hürde dar, die sie ohne Begleitung nicht hätte überwinden können.

Für die Zukunft wünscht Lavinia sich kleine Veränderungen, die jedoch viel bewirken können: „Es müsste eine Möglichkeit geben, eine blinde Person als Avatar durch die Räume mitzunehmen, wenn man sich schon nicht alleine bewegen kann.“ Zudem wünscht sie sich eine engere Zusammenarbeit bei der Programmentwicklung: „Wenn es um das reine Testen eines Programms geht, ist es sicher besser, einen Sehenden und einen Blinden zusammen testen zu lassen, damit beide verstehen, was funktioniert und was nicht.“

Mit Co-Creation zu weniger Barrieren

Zielgruppeneinbindung, Screenreader-Selbsttest und kreatives Spiel mit Sinneseindrücken – Tipps für die Entwicklung digitaler Kulturerlebnisse.

Video: Technologiestiftung Berlin, CC BY 4.0

Außerdem – so sind sich Michael und Lavinia einig – sollten immersive Kulturerlebnisse nicht primär visuell gedacht werden: „Wenn das akustische Feedback stimmt, könnte ich mir auch vorstellen, dass ich einen Avatar auch ohne Screenreader ansteuern kann“, so Lavinia. „Aus dem Gaming-Bereich gibt es da bereits gute Beispiele wie Sound of Magic, wo man hören kann, wenn man gegen eine Wand läuft.“ Für Michael an VR interessant wäre „der Raumeindruck durch den Ton. Wenn der Sound in einer virtuellen Welt räumliches Hören erlaubt und faszinierend gemacht ist, könnte das Angebot auch für Blinde und Sehbehinderte etwas bieten.“

Beitrag: Lara Schulte, Silvia Faulstich